Die Legende von Depilo
Diese Geschichte ist einer Freundin gewidmet. đ
Der Vorsitzende des Hohen Rates trat vor die Menge. Der Vollmond beleuchtete den Schauplatz. Er blickte in alte und junge Gesichter, manche waren noch voller Hoffnung, manche trugen schon den abgenutzten Ausdruck, der von einem langen und freudlosen Leben zeugte. Lautes Scherengeklapper setzte ein, um den Vorsitzenden zu grĂŒĂen. Wie fast alle seiner Art trug er eine Frisur, die an einen Kakadu oder an einen Ă€hnlich gearteten Vogel erinnerte. Seine Haut war braun und sah aus wie altes Leder. Er blickte gerĂŒhrt in die Menge und begann zu sprechen. Das rituelle GeschichtenerzĂ€hlen war das Privileg des Ăltesten.
âFast jeder von uns kennt sicherlich die Geschichte unseres Berufstandes. Heute sind wieder einige Junge hier, die die Geschichte noch nicht kennen.â Er deutete auf einige junge Personen, die sich nervös zusammenkauerten und hohlĂ€ugig einige ihrer Haare auffraĂen. âAuch die JĂŒngsten mĂŒssen wissen, wie es zu dem schrecklichen Schicksal unserer Art kam.â Er richtete sich an die Anwesenden: âIst es nicht so, meine Freunde?â Ein Geklapper und Seufzen ertönte, man konnte einen Hauch von Peroxid riechen. âSo ist es, so ist …â, raunte die Menge.
Er begann zu erzÀhlen:
âDepilo war ein junger Mann, stattlich von Gestalt, gut bei der Jagd. Doch er hatte eine besondere Gabe. Er könnte Dinge schöner machen, als sie es ohnehin schon waren. Er schmĂŒckte Tannen, Berge oder Auerochsen, und alle waren damit zufrieden. So zufrieden, dass eine berĂŒhmte Zauberin ihr Haar schmĂŒcken lassen wollte. Depilo war natĂŒrlich stolz und nahm seine Schere und allerlei Zierrat mit und suchte die hohe Frau auf. Doch ein böser Geist war neidisch auf Depilo und rempelte ihn an, als er gerade eine Blume zurechtschneiden und der Zauberin ins Haar stecken wollte. Der UnglĂŒckliche schnitt der Zauberin eine stattliche Menge Haar ab. Panisch versuchte er, auf der anderen Seite etwas abzuschneiden, um seinen Unfall zu vertuschen. Doch wieder rempelte ihn der Geist an und die andere Seite wurde wieder etwas kĂŒrzer. Wieder versuchte Depilo die Haartracht der Zauberin zu retten, aber es scheiterte klĂ€glich. Die erboste Frau blickte in den Spiegel und verlor die Beherrschung. Sie verfluchte den unschuldigen Depilo, der dem Haar doch nichts Böses gewollt hatte. Auf ewig solle er vom Haareschneiden leben und er solle fĂŒr diese Arbeit so wenig Lohn bekommen, dass er Haare essen mĂŒsse. Auch sollten ihm Haare am besten schmecken und er solle gar keine andere Kost mehr vertragen, ohne an schlimmstem Magengrimmen leiden zu mĂŒssen. Auch seine Nachfahren sollten diesen Fluch tragen, sobald sie das 16. Lebensjahr erreicht hatten. Deswegen liebt es unser Volk auch so sehr, anderen Menschen die Haare zu schneiden.â
Die Geschichte, so oft sie auch erzÀhlt wurde, weckte die Begeisterung der Wesen. Sie antworteten mit erneutem lauten Scherengeklapper.
Langsam ist es aber genug, dachte der Ălteste, dessen Magen schon ein wenig knurrte. Er zog einen riesigen blauen MĂŒllsack hervor und kippte ihn ĂŒber der Menge aus. Gierig geifernd machten sich die Frisöre ĂŒber die Haare her. Der Ălteste schmunzelte verschmitzt. Das beste hatte er sich angeeignet. Er stopfte sich einen langen blonden Haarschopf in die Tasche und leckte sich voller Vorfreude die Lippen. Diesen Happen wĂŒrde er zu Hause im Bett verzehren.